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Aus zwei wird eins

1990 bis heute

Trotz euphorischer Begeisterung wirft die Wiedervereinigung 1990 elementare Fragen auf – die auch Jahre später nicht abschließend beantwortet sein werden: Wie macht man aus zwei gegensätzlichen Wirtschaftssystemen eines? Wie lassen sich die Folgen der DDR-Mangelwirtschaft bewältigen? Und wie entstehen gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland?

Deutschlandspiegel 423/1989

© Bundesarchiv, Abt. Filmarchiv, Deutschlandspiegel 423/1989

Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen, Trabi-Konvois hupen, Sekt fließt und Hunderte klettern auf das steinerne Symbol der deutschen Teilung. Als die Berliner Mauer am 9. November 1989 fällt, ist die Begeisterung ebenso groß wie die Überraschung. Noch Anfang des Jahres erschien die DDR trotz ihrer wirtschaftlich katastrophalen Lage als stabiler Staat. Wenige Monate später stehen die Deutschen plötzlich vor der gewaltigen Herausforderung, zwei Staaten und zwei Wirtschaftssysteme zu einem einzigen zu formen.

Viele Menschen auf der Mauer in Berlin feiern den Mauerfall

© akg-images/Picture Alliance/dpa

Zehn Jahre Wartezeit für ein Telefon und 15 Jahre für ein neues Auto? In der DDR war das der Normalfall und Auswirkung einer jahrzehntelangen Mangelwirtschaft. Kein Wunder, dass die Menschen mit der Wiedervereinigung große Hoffnungen auf einen höheren Lebensstandard und westliche Konsumgüter verbinden. Doch zugleich bedrücken vor allem die Ostdeutschen Ungewissheit und Sorgen: Ist mein Arbeitsplatz sicher? Reichen meine Qualifikationen aus? Was passiert mit meinen Ersparnissen? Und was werde ich mir leisten können?

Carmen Lobrecht: Was wird?
Carmen Lobrecht hörte am 9. November 1989 in den DDR-Nachrichten von der Maueröffnung in Berlin. Lobrecht erzählt, welche Sorge ihr die Zukunft zunächst machte.

© Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Zeitzeugenportal, www.zeitzeugen-portal.de

Die Bundesregierung steht vor der Herkulesaufgabe, die planwirtschaftlich geprägte DDR in eine Marktwirtschaft nach bundesrepublikanischem Vorbild zu verwandeln. Dazu zählen die Einführung der D-Mark, die Privatisierung der volkseigenen Betriebe (VEB) und der Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur. In kurzer Zeit sollen so ein einheitlicher Wirtschaftraum und gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland entstehen.

Produktionsband für Trabbis

Produktionsband in der Werkhalle des VEB Sachsenring Zwickau, wo der Trabant gefertigt wird.

© Bundesregierung/Klaus Lehnartz

Helmut Kohl in seiner Fernsehansprache zum Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs-, und Sozialunion am 1. Juli 1990

Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.

Die rechtlich-formale Einheit ist rasch erreicht: Am 1. Juli 1990 tritt der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft. Damit übernimmt die DDR die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik und führt die D-Mark als Zahlungsmittel ein. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gilt ab dem 3. Oktober schließlich das Grundgesetz auch in Ostdeutschland und ganz Berlin, und die Deutschen feiern die Einheit ihres Landes.

Ausschnitt aus der Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl am Vorabend der Wiedervereinigung

© BArch, B 136 Ton-731B (Ausschnitt)

Die Treuhandanstalt übernimmt die Verantwortung für die VEB mit ihren fast vier Millionen Beschäftigten. Sie spaltet die großen Industriekombinate der DDR auf, privatisiert und saniert sie. Doch viele DDR-Betriebe können auf den Märkten nicht mithalten, und die Treuhand hat massive Probleme, Investoren für Betriebe und Grundstücke zu finden.

Entwicklung der Arbeitslosenquote in Ost- und Westdeutschland 1994 – 2018

(in Prozent)

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (BA), Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf 01/2019

Bis 1994 fließen allein über den Fonds Deutsche Einheit rund 160 Milliarden DM, umgerechnet rund 81,8 Milliarden Euro, in den Aufbau Ost, mit der Einführung des Solidaritätszuschlags 1995 werden nochmals etwa 250 Milliarden Euro hinzukommen. Dennoch sinkt die ostdeutsche Industrieproduktion nach dem Mauerfall um rund 70 Prozent, und Millionen Arbeitsplätze gehen verloren. Viele Menschen, die sich eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse versprochen haben, sind desillusioniert. Die innere Einheit des Landes vollzieht sich langsamer – und vor allem deutlich langsamer als erwartet.

Vergleich der durchschnittlichen Arbeitnehmerentgelte in Ost- und Westdeutschland

Quelle: Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder (2014), Arbeitnehmerentgelt, Bruttolöhne und -gehälter in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland 1991 bis 2013, Reihe 1, Band 2

Bis heute ringen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft darum, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen Deutschlands zu verwirklichen, zuletzt in der gleichnamigen Kommission. Doch trotz aller noch bestehenden Probleme: Die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands, auch die wirtschaftliche, ist international ohne Beispiel.

Zahlen und Fakten

200 Tsd.

Menschen
rufen am 20.11.1989 in Leipzig erstmals „Wir sind ein Volk!“

12.000

Betriebe
verwaltet die Treuhand, etwa ein Drittel davon wird aufgelöst

460

Tonnen Geldscheine
transportiert die Bundesbank zur Währungsunion in die DDR

2017

ziehen erstmals
mehr Westdeutsche in den Osten als umgekehrt

Die Minister

Jürgen W. Möllemann

1991 – 1993

Jürgen W. Möllemann

© Bundesregierung/Richard Schulze-Vorberg

Im zweiten Kabinett Kohl ist Jürgen Möllemann (FDP) zunächst Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, bevor er im Jahr 1991 das Wirtschaftsressort übernimmt. Er ist unter anderem für das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost verantwortlich. Auf zahlreichen Auslandsreisen wirbt er auch für die neuen Länder als Wirtschafts- und Investitionsstandort. Umstritten ist Möllemanns Einsatz als Wirtschaftsminister für deutsche Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien.

Dr. Günter Rexrodt

1993 – 1998

Dr. Günter Rexrodt

© Bundesregierung/Engelbert Reineke

Nach der Wiedervereinigung wechselt der ehemalige Finanzsenator Rexrodt (FDP) von Westberlin in den Vorstand der Treuhandanstalt, bevor er von 1993 bis 1998 das Wirtschaftsressort übernimmt. Rexrodts Motto „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt“ beschreibt sein Ideal wirtschaftlichen Handelns ohne Einmischung der Politik. Mit seiner Amtszeit sind eine Reihe von Maßnahmen der Liberalisierung, Deregulierung und Flexibilisierung verbunden, wie die Beendigung der Post-, Telefon- und Energiemonopole sowie die Lockerung des Ladenschlussgesetzes.