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Umstrittene Reformen
Im 21. Jahrhundert
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts leidet die deutsche Wirtschaft immer mehr an einer zu geringen Arbeitsmarktflexibilität. Das Wirtschaftswachstum stagniert und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Deutschland gilt als „kranker Mann Europas“. Um die Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig zu machen, legt die Regierung ein umfassendes Reformpaket vor: die Agenda 2010.

Arbeitslose suchen in der Jobbörse in einem Arbeitsamt in Berlin nach freien Stellen.
© Getty Images/Bloomberg
Seit den Ölpreiskrisen in den 1970er Jahren kämpft Deutschland mit steigender Arbeitslosigkeit. 2003 haben fast fünf Millionen Deutsche keine Arbeit. Gleichzeitig wächst die Wirtschaft seit der Wiedervereinigung – wenn überhaupt – nur schwach.
Arbeitslosigkeit und Wirtschaftswachstum 1991 – 2003
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (BA), Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf 01/2019; Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 3/2009, S. 204
Und selbst wenn sie es tut, führt das nicht dazu, dass wieder mehr Menschen Arbeit finden. Die Sockelarbeitslosigkeit steigt mit jeder Krise. Seit Mitte der 90er Jahre leidet Deutschland zudem unter einer Exportschwäche. Deutsche Produkte sind auf dem Weltmarkt zu teuer geworden, auch aufgrund immer höherer Lohnnebenkosten.
Saldo der Leistungsbilanz 1990 – 2003
(in Prozent des BIP)
Quelle: https://www.deutschlandinzahlen.de/no_cache/tab/welt/aussenwirtschaft0/aussenhandel/saldo-der-leistungsbilanz?sword_list%5B0%5D= leistungsbilanz, abgerufen am 13.02.2019
Nicht zuletzt wegen der zuvor geplatzten New-Economy-Blase droht im Jahr 2003 schließlich eine echte Rezession, und der Handlungsdruck auf die Bundesregierung und ihr Ministerium für Wirtschaft und Arbeit steigt. Das „Bündnis für Arbeit“ – der Versuch, im Konsens mit Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden einen wirtschaftlichen Aufbruch herbeizuführen – ist gescheitert.

„Mut zur Veränderung" – mit diesem Motto wirbt Bundeskanzler Schröder für das Reformpaket der Agenda 2010.
© ZB – Special
Am 14. März 2003 kündigt Bundeskanzler Gerhard Schröder weitreichende Reformen an: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ Die sogenannte Agenda 2010 soll durch strukturelle Anpassungen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, attraktivere Rahmenbedingungen für die Wirtschaft schaffen.

© Deutscher Bundestag
Gerhard Schröder am 14. März 2003 in seiner Regierungserklärung zur Agenda 2010
Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück unserer Reformagenda (...) Wir wollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch die Möglichkeit bekommt.
In den folgenden zwei Jahren setzt das Wirtschaftsministerium federführend die Reform des Arbeitsmarktes und verschiedene wirtschaftspolitische Einzelmaßnahmen um. Zur Agenda 2010 gehören zudem Reformen des Gesundheitssystems, der Rentenversicherung und des Steuersystems.

Die Reformen der Agenda 2010 am Arbeitsmarkt, vor allem die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu „Hartz IV“, sind heftig umstritten.
© Picture Alliance/Ulrich Baumgarten
Die Arbeitsmarktreform, besser bekannt als die Hartz-Gesetze, verkürzt den Anspruch auf Arbeitslosengeld auf nur noch 12 (statt zuvor 18) Monate und legt Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (umgangssprachlich: Hartz IV) zusammen. Die Reform lockert zudem den Kündigungsschutz und flexibilisiert den Arbeitsmarkt, indem sie Mini-Jobs schafft und mehr Zeit- und Kurzarbeit ermöglicht. Niedrigere Lohnnebenkosten sollen die Konjunktur ankurbeln, während eine modernisierte Handwerksordnung nun auch Betriebsgründungen ohne Meisterbrief erlaubt und so den Mittelstand fördert.

Aus den Arbeitsämtern werden Agenturen für Arbeit, in den Jobcentern werden die Empfänger von „Hartz IV“ betreut.
© Picture Alliance/Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa
Welchen Anteil die Agenda 2010 am wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands in den Folgejahren hat und ob sich die Wirtschaft auch ohne das Reformpaket nachhaltig erholt hätte, ist noch immer umstritten. Unstrittig ist, dass Deutschland heute der Wachstumsmotor der europäischen Wirtschaft ist – der „kranke Mann“ ist genesen.
Was umfasst die Agenda 2010?
Oft wird die Agenda 2010 gleichgesetzt mit der Einführung von Hartz IV. Tatsächlich wurde die umgangssprachlich Hartz IV genannte Grundsicherung im Rahmen der Agenda 2010 eingeführt. Die Agenda umfasst jedoch eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen und Reformen. Die wichtigsten sind hier zusammengestellt.
Hartz I und II
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Verschärfung der Zumutbarkeit:
- Erwerbslose müssen grundsätzlich bereit sein, auch weiter entfernte Stellen anzunehmen, Gehaltseinbußen hinzunehmen und sogenannte „unterqualifikatorische Tätigkeiten“ in der gleichen oder einer ähnlichen „Job-Familie“ anzunehmen.
- Langzeitarbeitslose werden verpflichtet, jede Arbeit anzunehmen, unabhängig vom erlernten Beruf.
- Wer ein Stellenangebot ablehnt, muss mit stärkeren Kürzungen bei Arbeitslosengeld und Grundsicherung rechnen.
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Leiharbeit:
- Die Beschränkung der Überlassungsdauer auf zwei Jahre wird aufgehoben. Wer auf Leiharbeitsbasis an ein Unternehmen ausgeliehen ist, kann dort auf unbestimmte Zeit als „Externer“ beschäftigt werden.
- Im Gegenzug gilt: Die Bedingungen, zu denen Leiharbeiter eingestellt werden, müssen dieselben Bedingungen sein, zu denen auch Angestellte des leihenden Unternehmens arbeiten.
- Einführung des Existenzgründungszuschusses und der Ich-AGs, um Unternehmensgründungen aus der Arbeitslosigkeit zu erleichtern.
- Einführung der Mini- und Midi-Jobs
Hartz III
- Die Bundesanstalt für Arbeit wird in Bundesagentur für Arbeit und die Arbeitsämter in Agenturen für Arbeit umbenannt; damit einher gehen neue Organisationsstrukturen.
Hartz IV
- Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe werden für Erwerbsfähige zur „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ (ALG II), umgangssprachlich Hartz IV, zusammengeführt.
- Empfänger des ALG II werden in Jobcentern betreut. Diese gewährleisten einerseits die Grundsicherung und vermitteln andererseits die Bezieher der Grundsicherung an potenzielle Arbeitgeber und fördern Eingliederungsmaßnahmen und berufliche Weiterbildungen.
- Als Zuverdienstmöglichkeit für ALG-II-Empfänger werden sogenannte 1-Euro-Jobs geschaffen.
Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt
- Es gibt Lockerungen beim Kündigungsschutz.
- Der Anspruch auf Arbeitslosengeld wird auf 12 (bisher 18 Monate) gekürzt.
- Viele bisher gewährte Leistungen (z.B. Sterbegeld, Entbindungsgeld, künstliche Befruchtung) werden aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen.
- Arbeitnehmer finanzieren das Krankengeld und den Zahnersatz ab sofort über einen Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent allein.
- Die Praxisgebühr wird eingeführt – und zum 1. Januar 2013 wieder abgeschafft.
- Die Zuzahlungen zu Medikamenten werden erhöht.
- Der Versandhandel von Arzneimitteln wird erlaubt – Medikamente können nun auch über Internet-Apotheken vertrieben werden.
- Rentnerinnen und Rentner tragen den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung allein.
- Der Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenformel wird eingeführt: Die jährliche Rentenanpassung ist abhängig von der Entwicklung des Verhältnisses von Beitragszahlern zu Rentnern.
- Die Altersgrenze für Altersteilzeit wird von 60 auf 63 Jahre angehoben.
- Die Rente mit 67 wird vorbereitet und 2008 beschlossen. Seit 2012 wird das Rentenalter schrittweise von 65 auf 67 erhöht.
- Steuerentlastungen werden vorgezogen – Eingangs- und Spitzensteuersatz sinken, der Grundfreibetrag wird erhöht. Die Unternehmenssteuern werden gesenkt.
- Subventionen werden abgebaut: Die Eigenheimzulage und die Pendlerpauschale werden gekürzt und 34 Steuervergünstigungen abgeschafft.
- Die Steuerehrlichkeit soll gefördert werden: Wer Einnahmen, die zwischen 1993 und 2002 am Fiskus vorbeigeschleust wurden, nachbesteuern lässt, bleibt straffrei.
Die Minister

2002 – 2005
Wolfgang Clement
© Bundesregierung/Julia Fassbender
Im Jahr 2002 gibt Wolfgang Clement (SPD) nach der Bundestagswahl sein Amt als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen ab. Er übernimmt das neu geschaffene Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, das aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und dem Arbeitsministerium hervorgegangen ist. Wolfgang Clement setzt auf eine Offensive für mehr Wachstum und Beschäftigung. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Förderung von Innovationen zu. Die Agenda 2010 ist ein Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik von Wolfgang Clement.

2005 – 2009
Michael Glos
© Bundesregierung/Jochen Eckel
Die vorgezogene Bundestagswahl hat die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD zur Folge. Angela Merkel wird Bundeskanzlerin. Michael Glos (CSU) übernimmt das Amt des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie. Die Koalition entscheidet, das im Jahr 2002 geschaffene Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit in zwei Ressorts zu trennen: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird neu gebildet. In seiner Antrittsrede formuliert Michael Glos ein eindeutiges Ziel: „Wir wollen, dass wieder mehr Menschen Arbeit bekommen. Voraussetzung für neues Wachstum und für mehr Beschäftigung in Deutschland ist eine Stärkung der Sozialen Marktwirtschaft.“